MIR | Fasten your Seatbelt
Nehmt Platz, lehnt euch zurück und „Bitte anschnallen!“, denn das Flugzeug ist „cleared for take-off“. Der in Hamburg lebende Künstler MIR lädt im OZM HAMMERBROOKLYN mit seiner Ausstellung Fasten your Seatbelt zu einer besonderen Reise ein. Hier ist nichts so, wie es auf den ersten Blick scheint. So auch der vom Künstler gewählte Ausstellungstitel: Denn es handelt sich hier nicht nur um die englischsprachige Flugzeugansage, sich bitte anzuschnallen, sondern auch um einen symbolischen Hinweis von MIR zur aktuellen Situation und den festgelegten Maßnahmen. Durch das „psychologische anschnallen“ ist die Gesellschaft gezwungen, mit Einschränkungen zu leben. Da bedarf es manchmal einer Rettungsweste, um sich nicht unterkriegen zu lassen, was auch eine Art von Kunst ist. Die Arbeiten von MIR entstanden alle vor der Ausbreitung des Coronavirus in Europa und muten daher wie eine Prophezeiung auf die bevorstehende Zukunft an.
Fliegen, Raumfahrt und die Atmosphäre beim Verreisen interessieren den Künstler auch metaphorisch gesehen, schon seit vielen Jahren. Wird die Reise gelingen? Werden wir das Ziel erreichen? Was passiert, wenn wir abstürzen? Das sind immer wiederkehrende Fragen, die MIR bei seiner Arbeit beschäftigen und die sich auch motivisch wie rote Fäden durch die Werke der letzten Jahre ziehen. Die Ausstellung besitzt eine hohe Symbolik, die sich erst nach einer intensiven Betrachtung erschließen lässt. Fasten your Seatbelt präsentiert uns Inhalte aus der gegenwärtigen gesellschaftlichen Zeit und Facetten aus MIRs persönlicher Gedankenwelt.
MIR greift insofern realistische Aspekte in seinen Bildern auf, indem er einen modernen und funktionalen Stil sowie sich einer neuen Formsprache bedient, die sehr gut zu unserer heutigen Zeit passt. Der Künstler präsentiert uns durch seine Leinwandarbeiten nicht nur Piktogramme – mit symbolischem Gehalt – die wir aus den Gebrauchsanweisungen von Flugzeugen und vom Reisen kennen und somit einen Bezug zur Wirklichkeit aufweisen, sondern auch seine eigene Wahrnehmung auf die heutige Zeit. Die Darstellungen seiner eigenen Eindrücke sind auf den ersten Blick nicht kritisierend oder zielen auf Reformen in der Gesellschaft ab, wie es z. B. in der Kunst des Social Realism der Fall war, aber sie regen definitiv zum Nachdenken an und lassen unterschiedliche Interpretationen zu. Dies ist beispielsweise bei dem folgenden Bild der Fall.
Der Titel des Bildes lautet: Это не любовь, was auf Deutsch „Das ist keine Liebe“ bedeutet. Inspiriert wurde MIR bei diesem Werk von einem russischen Lied, in dem dieser Satz vorkommt. Hier passen das Dargestellte – Frau mit dramatischer Miene, mit der sich lösenden Rettungsweste, den beiden Symbolen Rose und Dolch – und der Werktitel, der präsent am unteren Bildrand zu sehen ist, gut zusammen. Die Frau scheint ihren Kummer in die Welt hinaus zu schreien, um sich von den bedrückten Gefühlen zu befreien, dabei klammert sie sich an einer Rettungsweste fest. Liebeskummer ist eine sehr starke Emotion, die viele Menschen aus eigener Erfahrung kennen. Um nicht im Sumpf der Melancholie zu ertrinken, benötigt man im assoziativen Sinn eine Rettungsweste, die einem wieder Energie und Optimismus gibt. Das Bild kann aber auch als Metapher eines Menschen bei einem Flugzeugabsturz über dem Wasser verstanden werden. So könnte die Rettungsweste sie vielleicht vor dem Versinken bewahren. Bei diesem Bildbeispiel wird die Komplexität von MIRs Werken ersichtlich, die charakteristisch für seine Kunst ist.
MIR hat im Laufe seiner künstlerischen Karriere, ähnlich wie Kasimir S. Malewitsch mit seinem Konzept zum Suprematismus einen eigenen und individuellen Malstil, den Inforealism, entwickelt. Er verwendet hierfür Gestaltungsformen, die die wesentlichen Attribute von Piktogrammen aufweisen und komplexe Themen vermitteln, die zu Assoziationen bei den Betrachter*innen führen und uns dazu anregen, uns mit ihnen zu beschäftigen.
MIR geht dabei künstlerisch mit den Piktogrammen um, die was den Stil anbelangt, nicht an eine klassische Formgebung erinnern. Aber er ist auch ein Künstler und kein Grafiker oder Designer. Zwar ist die Umgebung, wenn man von der Anbringung klassischer Piktogramme ausgeht, ungewöhnlich, da es sich jedoch zugleich auch um die Präsentation von Kunstwerken handelt, passt der Ort der Anbringung wieder. Zusätzlich hat uns der Künstler klar erkennbare Darstellungen, die ganz deutlich auf das Innere eines Flugzeugs hinweisen, an den Wänden und dem Fußboden hinterlassen. Eine einfache und schnelle Lesart der Motive ist ebenso möglich, auch wenn eventuell dabei nicht alle Deutungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden. Zudem besitzen Rettungsweste und Maske das Merkmal der Internationalität, denn sie stehen als klar erkennbare Zeichen auf der ganzen Welt für Schutz und Sicherheit. Die Anforderungen, die an Piktogramme gestellt werden, werden bei MIRs Kunstwerken noch erweitert, indem er über seine Bildmotive nicht nur technische Informationen, sondern auch psychologische vermittelt.
MIRs Arbeiten passen sehr gut in unsere heutige, schnelllebige und temporeiche Zeit, denn man kann das Dargestellte aufgrund des vereinfachten und sachlichen Stils schnell rezipieren. Zudem kann die Typografie auch recht zügig gelesen werden, wenn man in der Lage ist, Russisch zu verstehen. Für den Künstler ist das Verdeckte und Geheimnisvolle in der Kunst wichtig. Im besten Fall bremsen seine Werke die Rezipienten für einen Moment ab und lassen sie für eine gewisse Zeit vor seinen Bildern verweilen. Erst wenn man dies tut und gewillt ist, sich kontemplativ auf seine Kunst einzulassen, können die Rätsel und Botschaften von ihm entschlüsselt werden. Mit der heutigen Bilderflut ist das nicht immer einfach, aber eine Auseinandersetzung damit lohnt sich sehr. Insbesondere dann, wenn wir die Tiefgründigkeit und Magie, die MIRs Kunst innewohnt, ansatzweise verstehen wollen.
Schwirren wir nun mit dem Flugzeug noch in der Luft, ist es sicher gelandet oder sind wir abgestürzt? Es gibt keine eindeutigen Antworten und das ist es, was Fasten your Seatbelt so unglaublich aufregend und interessant macht.