ArtOne | Aerosol HandStyles

„Ein Bild muss auch immer zum Interieur passen. Nicht nur der Kunst wegen muss es für sich Kunst sein, sondern für mich ist auch der Aspekt wichtig, dass Kunst auch zum Interieur passt. Das ist ganz wichtig. Es braucht einen guten Blick, dass Kunst ins Umfeld passt. Das immer irgendwo eine Verbindung ist.“ (ArtOne, 2021)

ArtOne: Das sind zwei Wörter kombiniert zu einem mit einer starken Aussage. Eingebettet ist das Pseudonym des Writers in Geflechte voll bunter Linien, die sich zu Energiezentren verdichten und die Bildoberflächen in Spannung versetzen. Willkommen in der Ausstellung Aerosol HandStyles von ArtOne im OZM HAMMERBROOKLYN. Mit unglaublichem Einfallsreichtum und einem künstlerischem Gespür setzt ArtOne seinen Namenszug ein, um seine Fähigkeiten zu zeigen. Eifrig wie ein Forscher dekliniert er in den Ausstellungsräumen konsequent seine Signatur in einer Stilmischung aus Tag und Kalligrafie durch. Da sich auch Bilder aus seinen früheren Schaffensjahren dort befinden, kann die künstlerische Entfaltung ArtOnes sehr gut nachvollzogen werden. Das Taggen, die verschiedenen Darstellungsformen seiner Buchstaben und die Entwicklung unterschiedlicher Schreibstile, all das sind Inhalte, die man bei Aerosol HandStyles finden kann. Wer sich die Zeit nimmt, kann hier sehr gut den Wandel in den Schreibstilen von ArtOnes Buchstaben ermitteln.

Wie auch einige andere Künstler im OZM, begann ArtOne seine Laufbahn als Graffitikünstler Ende der 1980er-Jahre im urbanen Raum Hamburgs. Ein ungewöhnliches Projekt folgte ein paar Jahre später, als das Altonaer Museum einige junge Sprüher von der Straße dazu einlud, an einem Projekt mitzuwirken und um bereits damals schon zu zeigen, dass Graffiti auch in einen musealen Kontext treten kann. ArtOne nahm 1991 an der Aktion und später stattfindenden Ausstellung teil. Noch heute befinden sich zwei seiner Bilder, die mittlerweile 30 Jahre alt sind, im Fundus des Museums. Eine andere wichtige Erfahrung, die ArtOnes Kunst Anfang der 1990er-Jahre prägte, war sein Kontakt mit der Leinwand. Inspiriert durch amerikanische und französische Graffitiartists, die bereits in den 1980er-Jahren auf diesem Material malten, begann auch ArtOne damit zu experimentieren. Die Leinwand ist ein kleinerer, beschränkterer Raum als eine Wand draußen. Aber genau dieser Aspekt gefiel dem Künstler sehr. In diesen frühen Jahren verkauften die Sprüher ihre Bilder zwar noch nicht, aber sie waren bereits da. Und so präsentieren die Bilder in ArtOnes Ausstellung nicht nur seinen Werdegang von einem jungen Writer von der Straße zum Künstler, sondern sie sind darüber hinaus historische Zeugnisse, die einen Einblick in die künstlerische Entwicklung des Graffiti-Stylewritings geben. Die Werke sind ein Ausdruck ihrer Zeit und der Individualität des Künstlers. An den Wänden der Ausstellung hängend, beginnen sie unser jetziges Bild zu prägen und werden gleichzeitig zum Abbild ihrer Gegenwart.
Schrift präsentiert mit ihrem Rhythmus sowie Duktus von jeher die Persönlichkeit eines Menschen und ist mit Atmosphäre versehen. Genauso verhält es sich auch mit dem geschriebenen Tag. Zu Beginn in Amerika noch als „Hit“ bezeichnet, wurde das englische Wort „Tag“ (dt. u. a. „Markierung“ oder „Etikett“) in den frühen 1980er-Jahren mit derselben Bedeutung in den Wortschatz der deutschsprachigen Writer übernommen. Das Tag ist die Urform des sich daraus entwickelten Piece und präsentiert die unverwechselbare Handschrift eines Writers. Zudem weist es Parallelen zur Kalligrafie auf, die wiederum nicht ohne Grund als die Kunst des Schreibens verstanden wird. Das Tag, welches oft das Pseudonym eines Graffitiwriters ist, wird meist schnell und ohne das Werkzeug hinzulegen in einem Zug geschrieben. Dabei ist es so gut wie immer einfarbig. Zum Anbringen eines Tags werden neben der Sprühdose oft auch wasserfeste Marker benutzt. Tags können allerdings auch mit Malerrollen oder anderen Utensilien angefertigt werden. Ebenso ist das Einritzen des Pseudonyms eine gängige Methode. Tags lassen sich sowohl innen wie auch außen und auf den unterschiedlichsten Untergründen finden. In der Szene nennt man die Darstellungsweise mit dem ein Graffitiwriter sein Tag malt „Handstyle“. „Aerosol“ ist sowohl als Begriff für das gasförmige Farbgemisch, das sich in den Sprühdosen befindet, als auch als eine weitere Bezeichnung für Graffiti-Kunst bekannt. Ein eigener Handstyle ist das, was jeder Writer anvisiert. Hier ist eine schöne Verbindung zum Ausstellungstitel ersichtlich. Diese eigene unvergleichliche Handschrift wird teilweise durch die regionale Umgebung bestimmt. Zudem bedarf es sehr viel Zeit und Geduld, bis der eigene Handstyle sich entwickelt hat. Das kann auch mal mehrere Jahre dauern. Hat der Writer aber erst einmal sein Tag ausgestaltet, übt er es so lange und malt es oft, bis er es schnell, sicher und in der immer gleichen Form schreiben kann. Bei den meisten Graffitiwritern ist deshalb das vorrangige Ziel, einen guten und innovativen Style mit dem Tag zu kreieren. Somit stehen also Originalität und Qualität im Vordergrund. Einige Graffitisprüher wie auch ArtOne haben ihre Tags so perfektioniert, sodass sie zu Kunstwerken geworden sind.

Dass das Tag und auch die Schriftentwicklung den meisten Raum in ArtOnes Bildern einnehmen, ist sehr gut zu sehen, da Schrift das primäre Sujet der Ausstellung bildet. Neben den unterschiedlichsten Formmöglichkeiten der Buchstaben interessieren ihn ebenso neue Impulse, die er beim Malen gewinnt. So ist das Thema Tag für den Künstler noch nicht „abgearbeitet“, da er beim Anfertigen seiner Bilder immer wieder neue Dinge findet. Durch diese Entdeckungen erschließen sich für ArtOne neue Kontexte, die ihm ein ungemein befriedigendes Gefühl und Impulse für neue Ideen geben. Auffallend ist, dass besonders bei den Bildern aus den letzten Jahren eine kursive, Schreibschrift-ähnliche Variante von ihm bevorzugt wird. Das passt sehr gut zum Charakter eines Tag, da diese Schriftart schnell und in einem Zug umgesetzt werden kann.
Unser lateinisches Alphabet ist über 2000 Jahre alt und hat sich seit seiner Entstehung immer wieder aufgrund von soziologischen und technologischen Voraussetzungen verändert. Um das 12. Jh. herum erlangte z. B. die Karolingische Minuskel im weltlichen Zusammenhang zunehmend einen kursiven Charakter. Aus diesem Schrifttypus wiederum entwickelte sich dann im 17./18. Jh. die Englische Schreibschrift, die kurz darauf in den vornehmen Kreisen Englands den Status einer Kunstschrift innehatte. Verwendet wurde diese Schrift sowohl für die private als auch für die geschäftliche Korrespondenz. Ihr Vorteil und entscheidende Neuerung lag in der Geschwindigkeit und Klarheit, mit der sie geschrieben werden konnte. Weiterhin wurden bei der Englischen Schreibschrift zum ersten Mal in der Geschichte alle Buchstaben eines Wortes miteinander verbunden, was sie als äußerst geeignet für den praktischen Gebrauch werden ließ. Aufgrund dessen und durch die britischen Handelsbeziehungen war sie bis zur Mitte des 18. Jh. weltweit verbreitet. Seit den 1950er-Jahren ist das Interesse an der Kalligrafie in vielen Kulturen gewachsen und so ist innerhalb der letzten 20 Jahre aus ihr eine eigene Kunstform geworden.
Sowohl beim Taggen als auch bei der Kalligrafie beeinflusst das Schreibwerkzeug das Aussehen eines Buchstabens ganz wesentlich. Eigenschaften wie kantig oder spitz, weich, starr oder elastisch beeinflussen den Rhythmus und auch die Geschwindigkeit beim Schreiben. Jede/r entwickelt hierbei ihre/seine eigenen Vorlieben. Die Tags bei ArtOnes Bildern sind meistens mit einer größeren Neigung der Buchstaben und verlängerten Ober- und Unterlängen ausgeführt sowie mit einer Needle-Cap gesprüht, wodurch eine äußerst exakte und auch dünne Malweise möglich ist. Hinzukommend führt ArtOne viele seiner Tags mit Drips aus, die oftmals zu langen Linien auslaufen und häufig in der Kunst des Stylewriting anzutreffen sind.

Genauso wichtig wie die Form der Buchstaben ist in der Kalligrafie die Art und Weise, wie Wörter auf einem Blatt arrangiert werden und die Wirkung der Struktur, die sich daraus ergibt. Bei ArtOne erscheint diese auf den Arbeiten gerade aus den letzten Jahren, ähnlich wie bei Jackson Pollock, wie ein Raum, der keinen Anfang und kein Ende zu haben scheint, kein Zentrum und keine klar erkennbare Perspektive. Die Strukturen präsentieren sich wie ein Auszug aus einem unendlichen Kontinuum. Wie tänzerisch wirkende Linienkonfigurationen schlängeln sich die Namenszüge und Striche über die gesamte Bildfläche. An einigen Stellen bündeln sie sich zu Verflechtungen. Dabei bleibt alles auf der Leinwand, nichts „fällt“ aus den Bildgrenzen heraus und läuft auf die Wände über. Da ArtOne die Farben in mehreren Schichten auf die Untergründe appliziert, erhalten sie eine haptisch erfahrbare Festigkeit der Oberflächen und hierdurch eine optische Tiefe.
In den Anfangsjahren malte ArtOne sehr sauber und akkurat. Drips waren ihm ein Dorn im Auge. Später begann er dann zusätzlich abzukleben, aber diese Technik befriedigte ihn nur eine Zeit lang, da er sich irgendwann damit nicht mehr identifizieren konnte. Ein wenig frustriert und aus dem Bauch heraus entstand eine Leinwand, auf der er von links nach rechts immer nur „ArtOne, ArtOne, ArtOne“ schrieb. Zudem ließ er der fließenden Farbe ihren Lauf und es entstanden die ersten Drips in seinen Arbeiten, die mit der Zeit immer wichtiger für die Gestaltung der Bilder wurden. Dieses eine Bild hatte einen großen Einfluss auf sein weiteres Schaffen. Heute zeichnen sich die Bilder von ArtOne durch einen ausgewogenen Mix von Zufall und gezielt eingesetzten Farben, Materialien und diversen Techniken aus. Bei Aerosol HandStyles lassen sich neben dem Einsatz der Sprühdose auch die Verwendung von Pinsel, Spachtel, Farbrolle als auch Bauschaum wiederfinden.
Zu neuen Effekten und Materialmischungen kommt es z. B., wenn ArtOne durch seinen anderen Beruf an einen Rest hochwertiger chinesischer Seidentapete gelangt, mit der er ein neues Werk kreieren kann. So zeigt uns das Bild Colorful Aerosol Handstyles On Chinese Silk Wallpaper (in der Mitte) eine interessante und faszinierende Mixtur aus hochwertigem Hintergrundmaterial und dem doch eher günstigen Lack aus der Spraydose.

Bei diesem Bild wusste ArtOne im Vorfeld nicht, wie die Tapete mit dem Lack reagieren würde. So musste er diese Arbeit mehrmals besprühen, da der Stoff den Lack stark aufgesaugte. Bedingt durch diese Gegebenheit sind die Drips bei diesem Werk hauchzart und auch die Linien seiner Tags sind fein. Zusätzlich erhält die Arbeit durch die Auswahl der Farben, die dem Hintergrund kontrastierend gegenüber stehen, eine wirkungsvolle Ausstrahlungskraft. Entstanden ist ein sehr ästhetisches Bild, dass nicht nur durch den individuellen Handstyle des Künstlers besticht, sondern auch durch die Seidentapete einen subtilen Glanz erhält.
Die Bilder von ArtOne zeichnen sich durch Vielfältigkeit und Spannung aus. Zudem wird in der Ausstellung ersichtlich, dass der Künstler es sehr gut schafft, differenziert und wohl kalkuliert Farben einzusetzen sowie diese in gekonnten Bewegungsabläufen aufzutragen. Dabei weisen die Werke einen klaren Rhythmus und eine absolut sichere Gliederung der Bildflächen auf, die jedoch kein Zentrum, sondern vielmehr eine Gleichwertigkeit aller Bildteile besitzen und somit den Eindruck einer imaginären Unendlichkeit hervorrufen. Das eher klassisch gestaltete Ausstellungsumfeld der Bilder unterstützt die Wirkung der Werke. Die weißen neutralen Wände, die durch den schwarzen Teppich gedämpften, kaum hörbaren Schritte, die abgedunkelten Fenster und auch die schwarze Decke lenken den Blick der Betrachter*innen ganz gezielt auf die Kunst von ArtOne. Nichts lenkt die Aufmerksamkeit der Besuchenden von den Kunstwerken ab. In den Räumen von Aerosol HandStyles herrscht ein angenehm ruhiges sowie entspanntes Ambiente, das zum Studieren der Bilder und verweilen einlädt. Im Kontrast zur restlichen Ausstellung, aber trotzdem auch in einem stimmigen Zusammenspiel, wurden zwei Räume eingerichtet, die an bekannte öffentliche Orte erinnern, wo Tags im Alltag gefunden werden können. Hinzukommend wurden bekannte Materialien, die Writer oft für ihre Werke benutzen, in den beiden Räumen integriert. An dieser Stelle wird ein Stück des herkömmlichen und bekannten Präsentationsortes von Tags in den Ausstellungskontext geholt und dadurch eine thematische wie auch bildliche Verbindung aufgebaut. Durch die Kombination von bekanntem Ausstellungsdesign, das in vielen Galerien und oft in den zeitgenössischen Abteilungen von Museen zur Anwendung kommt, mit urbaner Kunst, entsteht eine außergewöhnliche und unkonventionelle Mischung.

ArtOne beweist mit seiner Ausstellung Aerosol HandStyles sein Können als Writer und Künstler. Seine Tags und Pieces zeigen einen ausgezeichneten Flow der Buchstaben, einen konsistenten Zusammenhalt der Wörter und eine ausgewogene Stimmigkeit in den Proportionen. Durch die Bilder von ArtOne rückt die Kunst der Schriftgestaltung von ihrem Image einer eher verschlossenen und für sich allein stehenden Disziplin ab und beweist hierdurch, das sie kein statisches Phänomen ist, sondern vielmehr auch eine angewandte Kunst der Gesellschaft, die sich immer wieder verändern kann und somit aktuell bleibt.

Quellen:
Leonhard Emmerling: POLLOCK, Köln 2009.
David Harris: 100 kalligraphische Alphabete, Stuttgart 2012.
David Harris: Die Kunst des Schreibens. Eine Anleitung zur Kalligraphie, München 2016.
Peter Kreuzer: Das Graffiti-Lexikon. Wand-Kunst von A bis Z, München 1986.
Jörg Schünemann: Graffiti Tag [online] Website: Das Graffiti Wiki URL: https://www.graffiti-wiki.com/tutorial/graffiti-tags/ [Stand: 15.09.2021].